Ableismus in der Schwangerschafts- und Geburtsbegleitung

„Aber wird sie später mal schwanger werden können?“ Das war die erste Frage, welche ich ohne weiteres Nachdenken aussprach, nachdem der Neurochirurg von Zoes Operation kam und uns berichtete, dass es unserer neugeborenen Tochter gut gehe. Und auch, dass sie vom Bauchnabel abwärts komplett querschnittsgelähmt sei.

Gastbeitrag von Bárbara Zimmermann

Selfie von Bárbara Zimmermann.

Selfie von Bárbara Zimmermann.

Die Frage mag absurd klingen – und das war sie auch in dieser Situation. Was ich aber in diesem Moment aussprach, war nicht der Wunsch oder die Projektion, dass mein neugeborenes Baby später auch Mutter werden sollte. Sondern vielmehr die Feststellung meiner eigenen Wissenslücke: dass ich als Doula keinerlei Referenz zu Frauen mit Behinderung hatte.

Seit meiner Doula-Ausbildung, die ich fünf Jahre zuvor in Brasilien absolviert hatte, arbeitete ich mit Schwangeren und Gebärenden. Vagina und Uterus waren sozusagen meine Arbeitsfelder. Oder anders gesagt: Ich unterstützte Frauen emotional, damit ihre Gebärmutter und Vagina sich entspannen und sie die Geburt mit Sicherheit und Respekt vollenden können. Migrantinnen in Deutschland waren mein Hauptfokus.

Wie funktioniert ihre Gebärmutter?

Als der Arzt also von einer kompletten Querschnittslähmung sprach, fragte ich mich sofort, wie es wäre, wenn dieses Mädchen, also mein Kind, später schwanger wird. Was passiert in ihrem Körper? Wie arbeitet ihre Gebärmutter? Wie ist es, wenn sie kurz vor der Geburt die Wehen nicht spürt? Das ist sehr wahrscheinlich eine Risikoschwangerschaft, dachte ich schnell. Die Gedanken rasten in meinem Kopf – zusammen mit einer Lawine von Gefühlen. Ich schämte mich, bis dahin die Existenz von behinderten Frauen in meiner Arbeit vergessen zu haben.

Der Wunsch, anderen Menschen während der Geburt nahe zu stehen und für sie da zu sein, war nach der Geburt meiner ältesten Tochter entstanden, die 18 Tage nach dem errechneten Termin in einem Krankenhaus vaginal geboren wurde. Drei Jahre später kam die zweite Tochter genau so „pünktlich“ wie die Schwester auf die Welt. Dieses Mal jedoch bei uns zu Hause. Eine schmerzfreie und sanfte Geburt. Eine empowernde Erfahrung mit viel Verbindung und Vertrauen in meinen Körper und in mein Baby! Dann kam die jüngste Tochter und mit ihr war und ist vieles neu (außer die Liebe). In der 25. Schwangerschaftswoche (SSW) bekamen wir die Diagnose eines offenen Rückens und Hydrozephalus und damit Entscheidungen, wie ein geplanter Kaiserschnitt in der 36. SSW, Intensivstation und eine Operation bei unserem Baby einen Tag nach seiner Geburt.

Die Doula, die ich vor der Geburt meiner jüngsten Tochter war, bin ich nicht mehr. Der Mensch, der ich war, bin ich auch nicht mehr. Neue Worte gehören zu meiner täglichen Routine. Eine neue Brille habe ich vor meinen Augen. Und die tiefe Liebe zu meinem Kind gibt mir Mut und Kraft, mich aktiv für eine Gesellschaft frei von Diskriminierung einzusetzen.

Geburt ist politisch

Nach der Diagnose ging ich durch die letzten Wochen von Zoes Schwangerschaft ohne irgendeine Referenz in Büchern über die Schwangerschaft, die Geburt und die Mutterschaft eines Babys mit Behinderung zu finden. Es ging immer nur um Abtreibung. Oder ist zufällig die Rechnung Familie + Kind mit Behinderung = Glück etwa unmöglich (selbst wenn in der Pflege des Kindes auch viel Belastung liegt)? Selbst meine Hebamme schien nicht mehr ganz die richtige für meinen Fall zu sein. Durch diese unerwartete große Umstellung und den neuen Weg, der nun für mich anstand, hatte ich oft das Gefühl, sie sei selbst überfordert und könne mich nur teilweise verstehen.

Erst nach Zoes Geburt sind mir viele Erkenntnisse über meiner Tätigkeit als Doula gekommen. Vorher hatte ich von vaginaler Geburt als der besten Form von Geburt gesprochen. Ich ging damals davon aus, dass das die Normalität sei und ihre Abweichung, also der Kaiserschnitt, für Fälle entwickelt wurde, wo etwas „schiefläuft“[1].  Der gesunde Körper war die Referenz von Normalität und die war gut, so dachte ich damals[2]. Ohne es zu wissen, war ich sehr diskriminierend und ableistisch. Gleichzeitig sprach ich aber von Liebe, Selbstbestimmung bei der Geburt und Flow, was auf den ersten Blick gut zu sein schien.

Tochter Zoe ist inzwischen drei Jahre alt.

Tochter Zoe ist inzwischen drei Jahre alt.

Warum sind diese Aussagen ableistisch? Weil sie davon ausgehen, dass alle, die nicht in dieses Raster passen, nicht dazu gehören, nicht normal sind[3]. Ableismus legt Zuschreibungen über Verhalten, Fähigkeiten und Körperformen und
-funktionen fest. Er bezieht sich permanent auf Normativität und erzeugt dadurch Ausgrenzung und Diskriminierung.

Inklusive Geburtsbegleitung

Die Narrative in Geburtsvorbereitungskursen sind auf nicht behinderte Eltern und nicht behinderte Kinder ausgelegt. Die Bilder, die wir in Bücher oder anderen Medien über Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft finden, bieten uns keinen Einblick in Elternschaft mit behinderten Eltern und/oder behinderten Kindern. Wenn es doch mal vorkommt, ist alles mit großen Überschriften wie „Mutter trotz Behinderung“ betitelt, ganz so, als ob mit einer Behinderung Schwäche und Unfähigkeit per se impliziert wäre. Oder noch schlimmer: als ob ein behinderter Mensch kein aktives Sexualleben hätte.

Wie inklusiv ist die Schwangerschafts-, Geburts- und Wochenbettbegleitung in Deutschland? Wie divers sind die Bilder, Haltungen und Erfahrungen zu Geburt bei Hebammen, Frauenärzt*innen, Arzthelfer*innen und anderen Fachpersonen? Warum wird das Thema Inklusion so selten in einem medizinischen Kontext offen debattiert, das Gebiet, mit dem Menschen mit Behinderung oft engen Kontakt haben? Ableismus unter medizinischen Fachmenschen kommt leider sehr häufig vor. Und das nach fast 15 Jahren der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland.

Wie inklusiv und barrierefrei sind die gynäkologischen Praxen? Ich spreche hier nicht nur von einer Rampe im Eingang, sondern auch von gynäkologischen Stühlen, die für eine gehbehinderte Person eventuell nicht zugänglich sind. Es geht zum Beispiel auch darum, dass ein Abbruch nicht der erste Vorschlag ist, wenn die Schwangerschaft einer Frau mit Behinderung bestätigt wird, wie in der Folge Behinderte Eltern im Podcast Die Neue Norm zu hören ist. Oder noch fragwürdiger: Der Fall Katie aus England, wo Eltern und Ärzt*innen den Uterus eines jugendlichen Mädchens mit zerebraler Kinderlähmung entfernen wollten, als ob sie einfach so über ihren Körper und ihre Sexualität bestimmen könnten. Selbstbestimmung und Teilhabe sind Begriffe, die oft weit entfernt von der Realität gynäkologischer Beratung für behinderte Menschen bleiben.

Stillen ist das Beste – aber für wen eigentlich?

„Stillen ist am besten“ wird oft postuliert. Jetzt frage ich: Für wen ist Stillen das beste? Es ist kein Problem zu sagen, dass Stillen sehr gut ist und, wenn möglich, tatsächlich das Beste für Mutter und Kind. Aber wenn Aussagen wie diese ausschließlich von und für nicht behinderte cis Frauen gemacht werden, dann haben wir doch ein Problem.

Noch ein Beispiel: „Dein Körper weiß es genau. Verbinde dich mit deinem Körper und lass es fließen“. Ja, so habe ich teilweise gedacht, gesprochen und auch getan. Aber kann ich Sätze wie diesen oder wie „Dein Körper weiß Bescheid“ einer Frau mit Behinderung sagen? Ist das ein Motto für alle Gebärenden? Wenn ich meine fast dreijährige Tochter beobachte, die schon drei große Operationen hinter sich hat und mit einem komplett anderen Körpergefühl aufwächst als meine zwei anderen Töchter und ich, bin ich fast sicher, dass dieser Satz für sie auch wie eine Bedrohung sein könnte. Ihr Körper weiß über vieles Bescheid, aber ihr Flow ist ein ganz anderer als meiner.

Es geht um Verantwortung

Michel Odent, der französische Arzt und Geburtshelfer, der vieles in Hinsicht der sanften Geburt geleistet hat, postuliert, dass es nicht egal ist, wie wir auf die Welt kommen. Da stimme ich zu hundert Prozent zu. Aber wenn hier nur gesunde Körper betrachtet werden, dann hat diese Theorie nicht an alle Menschen gedacht. Das Thema Ableismus in Zusammenhang mit Schwangerschaft und  Geburt sollte ein präsenter Fokus in Weiterbildungen von Fachmenschen, die mit Frauengesundheit arbeiten, sein. Weil reproduktive Gerechtigkeit ein Grundrecht ist. 

Heute, fast drei Jahre nach Zoes Geburt, bin ich froh – selbst wenn etwas spät mit 36 – einen viel diverseren Blick auf das Menschsein entwickelt zu haben. Das ist aber kein Endstadium. Ich bin damit nicht „fertig“ – und darum geht es auch nicht. Es geht um eine aktive Offenheit, Selbstbeobachtung und vieles Zuhören, was in diesem Fall Menschen mit Behinderung zu sagen haben.

“Kann Zoe später mal schwanger werden?” Nun fragst du dich bestimmt, wie der Arzt damals auf meine Frage reagiert hat. Mit großen Augen und gerunzelter Stirn antwortet er mir: „Na klar kann sie schwanger werden. Im ersten Moment spricht nichts dagegen“.  

Ich wünsche mir also, dass es später für meine Tochter nur einen Grund gegen eine Schwangerschaft gibt: Wenn sie schlicht und einfach nicht schwanger werden möchte.  

Bárbara Zimmermann, Brasilianerin, Aktivistin für Inklusion und Mutter von drei Kindern. Sie schreibt  über Behinderung, Inklusion, Vielfalt, Mutterschaft und das Leben eine Südamerikanerin in Deutschland. Du findest sie auf Instagram unter @barbarazimmermann_ .

[1] Es geht hier nicht darum, den Kaiserschnitt zu romantisieren. Es geht hier um Narrative, um Geschichten, die über uns und „die Anderen“ erzählt werden. Erst als ich „die Andere“ wurde, ist das mir das alles klar geworden.

[2] Wenn wir noch tiefer diese Gedankenkette verfolgen, stoßen wir zu einer Menge anderer Themen wie z.B. Transsexualität.

[3] Ich spreche hier nicht über eine manchmal unsolidarische Haltung von Frauen gegenüber anderen Frauen, die einen Kaiserschnitt erlebt haben und gehört bekommen, ein Kaiserschnitt sei keine Geburt, sondern eine Chirurgie. Das ist ein anderes Kapitel – ein sehr wichtiges übrigens.

Bárbara Zimmermann

Brasilianerin, Aktivistin für Inklusion und Mutter von drei Kindern. Sie schreibt  über Behinderung, Inklusion, Vielfalt, Mutterschaft und das Leben eine Südamerikanerin in Deutschland. Du findest sie auf Instagram unter @barbarazimmermann_ und ab März auf dem Blog kaiserinnenreich.de.

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